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Kürzlich hat mir eine Bekannte erzählt, dass sie oft so eine Wut hat, weil ihr Jüngster so ganz anders ist, als sie ihn gerne hätte. Im Laufe des Gesprächs, während ich ihr zuhörte, kam sie darauf, dass diese Wut davon kommt, weil sie gern sicher gehen möchte, dass es ihrem Sohn gut geht und dass er seinen Weg findet, sie aber befürchtet, dass er dies nicht schaffen könnte. Sie würde gerne vertrauen können, dass es ihm gut geht, dies wäre eine große Entlastung für sie.
Ihr fiel dabei auf, dass es eigentlich seltsam ist, aus diesem Grund so wütend zu sein, und auch nicht hilfreich, aber dass es einfach immer wieder passiert. Ich sagte ihr, dass ich das aus eigener Erfahrung kenne, dass es bei mir inzwischen oft schon anders ist, und ob sie dazu aus meiner Sicht etwas hören möchte. Als sie bejahte, versuchte ich, ihr zu beschreiben, was mir in ähnlichen Situationen sehr weiter geholfen hat. Und obwohl ich den Eindruck hatte, dass ich es etwas umständlich auf den Punkt brachte, war sie begeistert und hat sich bedankt, dass diese Sichtweise ihr einen ganz neuen Horizont eröffnet. Deshalb habe ich mich zu dieser FRIEDISCH Geschichte entschlossen, einerseits, damit ich selbst es möglichst pointiert und klar auf den Punkt bringe, andererseits um vielleicht auch den Lesern Inspiration zu bringen.
Es ist nun schon einige Jahre her, als Michael, unser älterer Sohn, mit 17 beschlossen hat, die HTL in der dritten Klasse abzubrechen. Er plante, eine Lehre zu beginnen, aus der aber dann nichts wurde. Es folgten vier Monate, in denen er zu Hause war, und praktisch nichts tat, wo ich auch bemerkte, dass er niedergeschlagen, antriebslos, reizbar und unglücklich war. Ich bemerkte, dass ich immer wütender auf ihn wurde, und starke Urteile in mir trug wie: „Er ist faul und unnütz, liegt uns nur auf der Tasche, was soll bloß aus ihm werden.“ Und natürlich auch: „Das ist eigentlich unsere Schuld, wir haben ihn falsch erzogen, haben ihm zu viele Freiheiten gelassen.“
In der Selbstempathie betrachtete ich meine Urteile und meine Wut, und konnte auch beides gut zulassen. Die Bedürfnisse darunter wurden mir Schicht für Schicht klarer, dabei veränderten sich auch meine Gefühle. Von den sehr vielen Bedürfnissen versuche ich nun die jeweils zentralsten zu erwähnen: Oberflächlich waren Selbstverantwortung und Entlastung da mit dem Gefühl des genervt seins. Darunter zeigten sich Unterstützung und Sicherheit mit dem Gefühl der Frustration, dann folgten Klarheit und Fürsorge gepaart mit Zerrissenheit, und schließlich kam ich an bei Liebe, Vertrauen, Wohlergehen und einer tiefen Traurigkeit und Hilflosigkeit.
Mir wurde folgendes klar: Wenn ich meinen Sohn in seinem Schmerz sehe, erfasst mich eigentlich eine tiefe Traurigkeit und ich fühle mich hilflos, weil ich ihn liebe und möchte, dass es ihm gut geht. Aber ich bin überfordert mit diesen schmerzhaften Gefühlen und schütze mich davor, indem ich ins Urteilen gehe. Durch meine Urteile und die Wut die daraus entsteht, brauche ich mich meiner Trauer und Hilflosigkeit nicht zu stellen.
Meine Urteile und die Wut sind sozusagen meine Strategie, um mich vor dem Schmerz zu schützen, der dadurch entsteht, weil ich mein Kind liebe und möchte, dass es ihm gut geht, und ich nicht weiß, wie ich da helfen soll. Als mir das klar wurde, hatte ich zwar liebevolles Verständnis für mich, gleichzeitig erkannte ich, dass diese Strategie gänzlich unbrauchbar ist, um meine Bedürfnisse nach Vertrauen und dem Wohlergehen für Michael zu erfüllen.
Einerseits wollte ich Michael bestmöglich unterstützen, wo ich unsicher war, ob dies besser durch klare Vorgaben oder durch Rückhalt und Ermutigung geschieht, andererseits wollte ich auch vertrauen und dadurch Entlastung und Sicherheit für mich.
Ich sagte also in etwa zu Michael: „Michael, ich möchte vertrauen, dass Du das Richtige findest. Gleichzeitig ist die momentane Situation für mich sehr schmerzhaft. Ich liebe Dich und möchte, dass Du Deinen Weg findest und Du in Deinem Leben glücklich wirst. Ich fühle mich hilflos, weil ich nicht weiß, wie ich Dir helfen kann, ob Du jetzt klare Führung brauchst oder Vertrauen und Ermutigung. Lass uns bitte darüber reden, wie es Dir geht, was evtl. Deine Ideen sind. Wenn ich mit Dir im Austausch bin, fällt es mir leichter, zu vertrauen und mit der Situation umzugehen.
Dies hat zu einem Miteinander auf Augenhöhe geführt, das wir auch jetzt noch pflegen. Ich spreche meine Befürchtungen aus, ohne Forderungen daran zu knüpfen, und Michael sagt mir, was in ihm vorgeht, wenn ich ihn damit konfrontiere. Manchmal gibt es auch klare Vorgaben, wenn es z.B. ums Miteinander im Haus geht, die dann meist auf Akzeptanz treffen, oft finden wir gemeinsam Lösungen, die wir miteinander tragen.
Übrigens hat Michael bald darauf eine Masseurausbildung begonnen und mit viel Engagement erfolgreich abgeschlossen. Er ist glücklich, lebt seine Berufung, und ich finde, seine „magischen Hände“ sind ein Geschenk für alle Menschen, die zu ihm kommen.
Thomas
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