Schmerzen fühlen und das Urteilen unter Kontrolle halten.
Integrität leben bedeutet für mich, dass ich Handlungen setze, bei denen die Bedürfnisse möglichst aller an einer bestimmten Sache Beteiligten berücksichtigt sind.
Es ging um die Bäume in unserem Garten. Ich liebe Bäume. Nicht zuletzt deshalb habe ich auch die Aufgabe einer Art „Gemeinde-Baum-Patin“ übernommen. Ich finde es wichtig, für deren Schutz zu sorgen und dazu beizutragen, dass das Bewusstsein bei möglichst vielen Menschen wächst, wie unglaublich wertvoll – vor allem alte, große – Bäume sind. Hier geht es um einen Baum, der schon viele Jahre alt ist und den wir sehr zurückgestutzt haben, als klar wurde, wie sehr sich unser Nachbar ärgerte, dass er so wenig Licht hat in seinem Büro – im Homeoffice.
16.00 Uhr-Wochenende-wir lagen gemütlich in der Hängematte. Da hörten wir die Heckenschere und eine offenbar ärgerliche Stimme an der Grenze unseres Grundstückes. Nach einem kurzen Gespräch ging Thomas rüber und fragte den Nachbarn, ob er helfen könne, schließlich sei das ja unsere Hecke, an der er werkte. Ja, es stimmte, er war ärgerlich. Thomas konnte das gut einfangen und er versprach, einen der Bäume zu stutzen – heute noch. Er kam zurück und wir gingen gemeinsam ans Werk. Alles in mir rebellierte, ich war tieftraurig. Denn es war mitten im Sommer und der Baum stand im vollen Saft. Ein herrlich schönes Blätterdach fiel, noch dazu eines, das uns wunderbaren Sichtschutz bot auf unserer Terrasse. Ich kämpfte mit mir selbst, während ich Thomas mit Seil sicherte, als er am Baum oben werkte. „Ich mache das für die Rücksichtnahme“, sagte ich mir immer wieder vor.
Ja, es stimmt, ich mag ihn nicht sonderlich, diesen Nachbarn. Ich würde lügen, würde ich sagen, ich mache das dafür, damit es IHM gut geht. Nein, das geht nicht, das stimmt auch nicht. „Ich mag es gerne hell, drum schneide ich auch alles gleich weg, denn es wächst eh viel zu schnell nach“, sagte der Nachbar im Gespräch. „Schluck, ja das ist unser Problem – wir ticken da zu 100 Prozent verschieden“, dachte ich mir …
Einerseits war ich Thomas tief dankbar dafür, dass er die Kommunikation mit dem Nachbarn übernahm. Ich war dadurch entlastet, denn es fiel mir sehr schwer, mit ihm reden zu wollen in dieser Sache. Ich erfuhr dadurch Entlastung und Schutz und konnte dadurch mit dem Rest der ganzen Angelegenheit besser klar kommen.
Andererseits wurde mir in der Zeit und in den Tagen danach vieles klar und ich hatte viel „innere Arbeit“ zu tun – immer wieder wanderte mein Blick von der Terrasse zum gestutzten Baum und meine Gefühlslage verfinsterte sich dabei immer wieder.
Immer wieder durchatmen und mir klar machen, dass es mein Schmerz und meine Gedanken sind. Der Nachbar war nur der Auslöser dafür. Ich „erklärte“ mir, dass es die Rücksichtnahme sei, für die ich/wir da gegangen waren. Und dann – welche Erleichterung – erkannte ich: „Nein, das geht tiefer. Es ist meine Integrität, die ich leben möchte. Auch, wenn es verdammt weh tut.“ Diese Erkenntnis half mir, damit mehr und mehr in Frieden zu kommen.
Darüber hinaus gelang diese Sache „friedlich“, weil Thomas und ich zusammenwirkten. Thomas übernahm die Empathie und Kommunikation mit dem Nachbarn großteils. Ich ging bestmöglich mit mithilfe umfassender Selbstempathie. Und auch das bewusste Trauern, das Zulassen und Seinlassen meines Schmerzes ob dieses Verlustes half, diese Herausforderung so zu meistern, dass ich jetzt – rückblickend – sagen kann: „Ja die Integrität zu leben war und ist in dieser Sache das Wichtigste“, und damit hinterlässt sie auch keine großen Wunden.
Ich bin mir sicher, jede(r) Leser/in kennt ähnliche Geschichten …. Ich freu mich auf Austausch darüber.
Nicola
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